Jenseits der Klischees: Wie Deutsche die Arbeit in Frankreich wahrnehmen

Frankreich belegt in Europa Platz 5 hinsichtlich der ausländischen Erwerbstätigen. Es sind 2 Millionen Menschen die 6 % der aktiven Gesellschaft darstellen. Die Klischees, mit denen Frankreich bezüglich der Arbeitsorganisation kämpft, sind hartnäckig: Franzosen sind faul, weil sie nur 35 Stunden pro Woche arbeiten und entweder Urlaub machen oder am streiken. Sie finden immer ein Thema worüber sie sich aufregen können... Jedoch sind sie weltweit am effektivsten.
Hören wir uns mal ein paar Meinungen von Menschen an, die als Ausländer in Frankreich gearbeitet haben, denn sie bringen mehr Objektivität als wir mit.
Die Arbeitsorganisation in Frankreich: eine eingerostete Methode?
Bezüglich der Hierarchie:
Viele Unternehmer beschreiben heutzutage ihre Arbeitsorganisation als locker und selbstbestimmt. Allerdings sind in Frankreich noch sehr viele Unternehmen hierarchisch aufgebaut, sagt Chadia Traboulsi mit französisch-libanesischer Herkunft.
Während sie einen tollen Job bei WelcomeToTheJungle als Sales Development Manager hat, waren ihre Erfahrungen in französischen Unternehmen nicht immer gut:
Der Mangel an Vertrauen der Vorgesetzten zu ihren Mitarbeitern war niederschmetternd. Die Annahme, der Mitarbeiter wolle nur seine Zeit aussitzen, war verheerend. Ich finde in Frankreich wird man nicht ernst genommen, muss sich allerdings diszipliniert zeigen.
Dasselbe Beispiel erzählt uns Lenor Hards. Die Irin arbeitete für eine amerikanische Firma, bis sie in einem Unternehmen in Lille eingestellt wurde. Während einer Mitarbeiterversammlung hat sie folgendes beobachtet:
Ein Kollege wurde inmitten seiner Präsentation vom Chef unterbrochen und ihm vor allen gesagt, dass seine Ideen nichts taugten. Das war unangenehm und wir waren danach sehr unmotiviert.
Riad Kacim sieht die Dinge anders. Der Marokkaner hat während seines Studiums mehrere Praktika absolviert und arbeitet heute als Digital Strategie Consultant:
Die Beziehung zu den Vorgesetzten war sehr kommunikativ. Wir wurden darin bestärkt, unsere Ansicht darzulegen. Wenn unsere Ideen dazu beitrugen dem Ziel näher zukommen, hat unser Chef das respektiert.
Präsentismus, Sitzungsmanie und Effizienz
Der Präsentismus in Frankreich begegnet uns immer wieder in den Erfahrungsberichten. Viele französische Unternehmen glauben auch zu Zeiten von Freelance, Homeoffice und Remote, dass wenn man nicht präsent ist, man nicht arbeitet oder wenn man keine Überstunden macht, nicht gut genug arbeitet. Lenor hat sehr schnell den Unterschied zu Dublin bemerkt:
In meinem vorigen Job war die Arbeitsorganisation sehr modern, da ich die Freiheit hatte, Dinge von zu Hause aus zu erledigen und solange ich die Anforderungen erfüllte, wurde nicht so streng auf die Arbeitszeit geschaut. Hier in Frankreich hat man immer ein Auge darauf, wann man nach Hause geht, selbst wenn die Arbeit getan ist und man noch seine Kinder von der Schule abholen möchte.
Chadia spürt die Konsequenzen:
Viele Arbeitnehmer sind ineffizient, Entscheidungen werden langsam getroffen und ich bin überrascht über die Untätigkeit im generellen. Es werden zu viele Treffen veranstaltet und ich verstehe diese 2-stündigen Sitzungen nicht. Es wird mehr geredet als getan.
Frankreich: Symbiose aus sozialen Errungenschaften und Bräuchen
Die berühmte Essenspause (pause déj):
Es ist in Frankreich nichts Neues, dass man sich über alles beschwert und man sich für seine Rechte einsetzt. Überstunden, bezahlter Urlaub und die Essenspause: Traditionen, die für ausländische Arbeitnehmer eigenartig wirken können, und dennoch gibt es unterschiedliche Erfahrungsberichte. Chadia findet ihre Mittagspausen zu lang und kehrt frühzeitig zum Arbeiten zurück. Im Gegensatz zu Matthew, der als Kameramann das ganze Jahr andere Länder bereist:
Mein Unternehmen ist amerikanisch, aber wenn wir nach Frankreich kommen, müssen wir das französische Arbeitsrecht respektieren. Ich weiß, dass ich in Frankreich bin, wenn die Leute sich an einem Tisch versammeln und sich trotz Arbeitsdruck Zeit nehmen. In anderen Ländern darf man gar keine Mittagspause haben, aber hier ist sie heilig, und stören ist unerwünscht. Außerdem sieht man Weinflaschen auf dem Mittagstisch, das ist toll!
35-Stunden Woche, Überstunden und Urlaub in Frankreich
Selbst wenn man die 35-Stunden Woche kennt, ignorieren viele Ausländer die Details. Der Amerikaner Matthew arbeitet als Kameramann und sagt:
Wenn ich in Amerika, Australien oder England arbeite, ist mein Tagessatz der gleiche, auch wenn ich an einem Tag über 15 Stunden arbeite. In Frankreich ist der Arbeitgeber dazu verpflichtet, die Überstunden zu beanstanden, und diese werden mir demnach auch bezahlt. Das finde ich gut, und seitdem versuche ich mein Recht auch in anderen Ländern geltend zu machen.
Samantha Rose ist Kanadierin und hat vor einigen Jahren in Frankreich als Fremdsprachenassistentin gearbeitet und berichtet schmunzelnd:
Das beste war eure Beziehung zu den Ferien. Es gab sie fast alle 3 Wochen und das war nicht schlecht. Es war witzig mit welchem Enthusiasmus versucht wird, einen Brückentag einzulegen.
Über weitere kulturelle Unterschiede berichtet Sae Hiko aus Japan:
Hier wird der Urlaub in Tagen gezählt, wird allerdings wegen Schuldgefühlen nicht in Anspruch genommen. Außerdem war ich noch nie im Urlaub um mich zu erholen, aber ich glaube das würde zur Produktivität beitragen. Urlaub ist wie das Elixir das einen gut durch das Jahr bringt. Frankreich ist da im Vergleich schon ziemlich weit. Selbst wenn ich privat verhindert bin, kann ich anfragen, ob es möglich wäre meine Stunden zu modifizieren. Das ist in Japan undenkbar.
Integrationstipps: der Wangenkuss und Apéro
Auch wenn jede Erfahrung unterschiedlich ist, erzählen viele wie überraschend sie französische Bräuche oder Regeln bezüglich der Integration finden. Ganz oben auf der Liste: der berühmte Wangenkuss. Samantha sagt:
Anfangs fand ich das merkwürdig, da ich in einer Schule arbeite und die Kollegen sich so begrüßen. Noch seltsamer fand ich, dass Männer den Wangenkuss bei Frauen anwenden, aber unter sich die Hände schütteln.
Lenor hat ähnliche Erfahrungen gemacht und fühlte sich erst integriert als sie sich diesem Ritual anpasste.
Anfangs fand ich meine Kollegen distanziert, und in den ersten Wochen hatte ich Schwierigkeiten Kontakt herzustellen. Einmal sagte mir eine Kollegin, dass ich nie grüße, wenn ich zur Arbeit komme. In Wirklichkeit habe ich alle aber immer verbal begrüßt. Also küsste ich morgens und abends die Mitarbeiter auf die Wange und bemerkte sofort einen Unterschied. Das nimmt zwar Zeit in Anspruch, aber man fühlt sich den Kollegen verbundener.
Riad hingegen sagt, dass es keine speziellen Regeln bezüglich der französischen Unternehmensintegration gibt. Außer wie schon gesagt, den Apéro, den er übrigens als Nationalsport bezeichnet!
Jedes Land hat seine eigenen kulturellen und organisatorischen Besonderheiten. Frankreich scheint fortschrittlich in sozialen Angelegenheiten zu sein und gleichzeitig in den früheren Zeiten festgefahren. Es ist schwierig objektiv zu sein, wenn man keine Erfahrungen außerhalb seines eigenen Landes gemacht hat. Daher sind die Erfahrungsberichte und Anekdoten ausländischer Arbeitnehmer eine interessante Beleuchtung der französischen Arbeitsrealität und können dazu ermutigen über den Tellerrand hinauszuschauen.
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