Das Diplom bei der Jobsuche in Frankreich verliert an Bedeutung

Polytechnique, Écoles Centrales, HEC, ENA, ENS etc. sind die angesagten Hochschulen Frankreichs. Absolventinnen und Absolventen französischer Grandes Ecoles haben bessere Chancen auf dem Arbeitsmarkt und dementsprechend auch bessere Zukunftsperspektiven. Allerdings scheint der Hochschulabschluss in Frankreich langsam an Bedeutung zu verlieren.
Jérôme Lecot, Geschäftsführer von Eurojob-Consulting hat dieses Phänomen untersucht und erklärt Ihnen in diesem Artikel, weshalb das Hochschuldiplom nicht mehr das A und O in der Arbeitswelt und warum die sozialen Kompetenzen für die Arbeitgeber wichtiger als das Diplom geworden sind.
Zusammenhang zwischen Bildung und Berufsperspektiven in Frankreich
In Frankreich ist das Bildungsniveau immer noch stark mit dem Lebensstandard korreliert. Der Hochschulabschluss bleibt der sicherste Weg, um einen akzeptablen sozialen Status und die berufliche Mobilität zu gewährleisten. In der französischen Gesellschaft ist der Erfolg eng mit dem Bildungsstatus verbunden. Diese Prägnanz ist eine französische Besonderheit.
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In modernen Ländern, die die Aristokratie und die Klassengesellschaft abgeschafft haben, musste ein neues Kriterium für die Verteilung von Arbeitsplätzen eingeführt werden, nämlich das akademische Verdienst. "Wer gut in der Schule ist, der bekommt später garantiert seinen Platz. So ist eine gewisse Notwendigkeit für den Abschluss entstanden", erklärt Jérôme Lecot.
Wichtigkeit der Grandes Ecoles und der Universitäten für die berufliche Zukunft
Die Ausstrahlung einiger namhafter Grandes Ecoles und Universitäten motiviert junge Leute dazu, höhere Abschlüsse in diesen akademischen Einrichtungen anzustreben. "Den französischen Recruitern ist es unter anderem sehr wichtig, wo der Bewerber sein Studium absolviert hat", sagt Lecot. Außerdem hat das Bildungssystem einen sehr großen Einfluss auf die Arbeitsmethoden später.
Mehr dazu lesen Sie in diesem Artikel: Wie sich das Schulsystem auf die Arbeitsmethoden auswirkt - Deutschland und Frankreich im Vergleich
In Frankreich ist der Erfolg in der Sekundarstufe entscheidend für die berufliche Zukunft. Denn im Gegensatz zu den Nordischen Ländern oder Deutschland gibt es für Jugendliche, die von der Schule abgehen, sehr wenige Weiterbildungsmöglichkeiten, um wieder auf Kurs zu kommen.
Französische Unternehmen bevorzugen eher Kompetenzen statt Diplome
Das Diplom hat seinen Wert in Frankreich nicht ganz verloren. Doch die Arbeitswelt ändert sich kontinuierlich. Hochschulabschlüsse sind zwar ein Plus in dem Lebenslauf, stellen allerdings kein entscheidendes Kriterium bei der Einstellung von Mitarbeitern dar. "In einer schnelllebigen Arbeitswelt kommt es vor allem auf den Transfer von Fähigkeiten und Lernfähigkeit an, erklärt Lecot.
Wichtigkeit der Soft-Skills in Frankreich
Eine aktuelle Studie des US-amerikanischen Marktforschungs- und Beratungsunternehmen IDC über die Kultur der Innovation in der Wirtschaft zeigt, dass das Diplom für Personalvermittler immer weniger wichtig ist. Die Personaler in Frankreich zum Beispiel legen den Fokus bei der Auswahl der Kandidaten in erster Linie auf folgende Kriterien: Kompetenzen (60%) und Problemlösungsfähigkeit (36%). Das Diplom spielt lediglich zu 32% des Auswahlprozesses eine Rolle. In anderen europäischen Ländern wird der Hochschulabschluss zu 41% der Auswahl-Prozedur berücksichtigt.
Dementsprechend sind Soft-Skills von besonderem Interesse für Arbeitgeber und werden von ihnen wichtiger als technische Fähigkeiten betrachtet. Diplom-Träger gibt es viele. Anpassungsfähigkeit, Autonomie, Konfliktfähigkeit etc. können allerdings nicht alle nachweisen. Lecot empfiehlt diese Fertigkeiten deutlich im Lebenslauf hervorzuheben.
Welche Soft-Skills in Frankreich angesagt sind, erfahren Sie hier: Die wichtigsten Soft-Skills für einen Job in Frankreich
Die Einstellungskriterien und -methoden in Frankreich
Die Evolution des Arbeitsmarktes zwingt die Arbeitgeber in Frankreich umzudenken und ihre Rekrutierungsstrategien anzupassen, um Bewerber mit den gewünschten Soft-Skills ausfindig zu machen. Potentielle Kandidaten können anhand von klassischen Vorstellungsgesprächen in der Regel nicht identifiziert werden. Deswegen müssen moderne Interviewmethoden integriert werden.
Der amerikanische Anbieter von Lern- und Talentmanagement-Lösungen Cornerstone onDemand bietet hochwertige Recruiting-Tools, die auf Schlüsselfertigkeiten basieren. Die Programme bieten unter anderem automatisierte Fragen zur Verhaltensweise, realistische Stellenbeschreibungen sowie Interviewleitfäden für die Personaler.
Andere Personalvermittler setzen lieber auf flexiblere Methoden, wie etwa Validierung von erlernten Fähigkeiten, Arbeitssimulationen, E-Learning, Mikrotraining und Recrutainment.
Der Ausbildungs-Boom in Frankreich
Um den sozialen Determinismus in Bildungsfragen umzugehen und den Kurswechsel der Unternehmen, die nun mehr Wert auf Kompetenzen legen, zu unterstützen, arbeitet die französische Regierung an mehreren Projekten, die einen allgemeineren Zugang zur Ausbildung ermöglichen sollen. Ziel ist es, den Zugang zum Erwerb neuer Fähigkeiten und das Image von Ausbildungsberufen zu fördern. Das von der Regierung vom Präsidenten Emmanuel Macron gestartete Berufsbildungsreformprojekt scheint in die richtige Richtung zu gehen.
Neuerungen im französischen Ausbildungswesen
Das Compte Personnel de Formation (CPF), das den Droit Individuel à la Formation (DIF) abgelöst hat. Das Konto wird in Euro anstatt in Stunden gutgeschrieben. Arbeiter haben zudem die Möglichkeit, ihre eigene Ausbildung auszuwählen.
Die alte Admission-Post-Bac-Plattform wurde durch das neue Parcoursup-Portal ersetzt, und zwar um den Zugang zur Universität zu vereinfachen. Die Webanwendung zielt darauf ab, Abiturienten besser zu orientieren und ihre Integration in den Hochschulen zu unterstützen. Zu den angebotenen Diensten gehört unter anderem die personalisierte pädagogische Unterstützung, um die Ausfallrate im ersten Studienjahr zu reduzieren.
Die Reformen der französischen Regierung sind ein Beweis dafür, dass Frankreich den lokalen Arbeitsmarkt mit hochqualifizierten Arbeitskräften und nicht nur Uni-Absolventen versorgen will. Tipps für die Ausbildung in Frankreich, finden Sie hier: Unsere Tipps um eine Ausbildung in Frankreich zu absolvieren
Die neue französische Personalmanagement-Strategie
Die Änderungen der Arbeits- und Ausbildungsmaßnahmen haben die Spielregeln am Arbeitsplatz grundlegend verändert. Das Personalmanagement muss sich diesem neuen Kontext anpassen und die Einstellungskriterien überdenken. "Unternehmen benötigen nicht nur Diplome, sondern auch Fähigkeiten", sagt Lecot.
Den Arbeitgebern stehen zwei Optionen zur Auswahl:
1) Überprüfen anhand moderner Kriterien und Mittel, ob der Kandidat die gewünschte Kompetenz mitbringt.
2) Eine neue Ausbildungspolitik einführen. Dazu gehört die Abschaffung des jährlichen Ausbildungsplans und die Einführung von Methoden, die die Kompetenzsteigerung vorantreiben, wie etwa die offenen Massen-Online-Kurse (auch MOOC genannt). Einige Unternehmen stellen mittlerweile massenweise gering qualifizierte Mitarbeiter ein und konzentrieren sich auf interne Schulungen, um die Defizite auszugleichen.
Ohne Diplom im IT-Bereich in Frankreich arbeiten
Initiativen wie die gemeinnützige und unterrichtsfreie Computerprogrammierschule "42" oder die kostenlose E-Commerce-Schule von Showroomprivé.com wollen beweisen, dass auch Jugendliche ohne Hochschulabschlüsse eine Chance auf dem Arbeitsmarkt haben. Diese Einrichtungen haben weder Alters- noch Diplom- oder Qualifikationsvoraussetzungen. Sie plädieren für eine für alle zugängliche professionelle und kollaborative Ausbildung.
"Das französische System funktioniert heute nicht mehr. Es ist einerseits zwischen der Universität eingezwängt, die eine kostenlose Ausbildung anbietet und nicht immer an die Bedürfnisse der Unternehmen angepasst ist und andererseits den teuren Privathochschulen, deren Bildung zwar von Qualität ist, vernachlässigt aber eine große Anzahl von Talenten und Genies", erklärt Xavier Niel, Mitgründer von "42".
Das Diplom ist auch für viele internationale Unternehmen fakultativ geworden. Die Business-Evaluator-Website Glassdoor hat eine Liste von 15 Unternehmen veröffentlicht, in denen es möglich ist, sich ohne Abschluss zu bewerben. Auf der Liste befinden sich renommierte IT-Konzerne wie etwa Google, IBM und Apple.
"Auch wenn das Diplom an Bedeutung verloren hat, ist es noch nicht vergessen. Ein Abschluss von der École Nationale d'Administration oder von der Polytechnique ebnet immer den Weg in die Arbeitswelt. Es bleibt weiterhin ein wichtiges Einstellungskriterium", erklärt Lecot.
Fazit: In unserer sich wandelnden Welt tritt die Praxis langsam an die Stelle von Theorie. Ob eine Person zum Unternehmen passt, hängt nicht mehr vom Diplom allein.

